Wien
Wien
Brief von Olga Angerer an Marie Schiele
29.11.1918
(Krumau 1862–1935 Wien)
Transkription:
29.11.18.
Liebe Marie!
Die Tage
und Wochen verfliessen
und man kann nicht be-
greifen, dass diese jungen
lebensberechtigten Wesen
nicht mehr sein sollen.
Deine Schwiegertochter Dein
Sohn und die arme Claire,
in der Blüte der Jahre
dahingerafft. Ich begrüße
vollständig dass Du kein
Verlangen hegst unter Men-
schen zu kommen, Besuche zu
machen, all’ dies flieht man ja
wenn Herz und Gemüt so wehe
ist. Doch denke er ist ja nicht
gestorben sondern nur voran
gegangen, den dunklen Weg
den wir Alle, gehn müssen. –
Ich weiss man fragt warum?
wozu? So bald? Doch ein
Narr wartet auf Antwort! –
Alle Thränen [!] sind umsonst,
Sie kehrn nicht zurück, die
man so gerne wieder haben
möchte, und man muss
es tragen aber fraget nur
nicht wie! –
Glaube mir ich fühle mit Dir,
habe ich doch vor Jahren mein
ganzes Glück begraben mit dem
Verluste von Kind und Mann. –
Einsam lechzt das Herz die Tage
u. Jahre hin; nun das Alter heran-
naht, wird man gefasster,
ruhiger, denn man weis es
dauert nicht mehr so lange,
und alles ist vorbei. Du musst
in dem Besitze deiner zwei
lieben und schönen Töchter
und Enkeln alles weitere
Glück sehen, und allmälig [!]
wenn auch langsam den
Schleier der Vergessenheit
über das Vergangene wehen
lassen, um wieder die noch
junge fesche Maman zu werden
die Du ja immer warst. Man
kann viel ertragen, viel über-
leben, und lebt zum Sch[l]usse
nur – Erinnerungen, doch da hast
Du noch lange hin. Sei also
stark, und trage dein Geschick
mit Würde. Jederzeit wird
mir Dein Besuch lieb sein.
Viele Grüsse der schönen Mela.
Des innigsten Anteils sei ver-
sichert, von Deiner
aufrichtigen
Base
Olga
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