Rätselhaft, anrührend und bedrückend ist die wie eingefroren wirkende Schilderung des österreichischen Zeichners, Grafikers, Malers und Schriftstellers Alfred Kubin (1877–1959), die er 1903 in seiner Tuschzeichnung mit dem Titel
Gedenkblatt für meine 1903 verstorbene Braut gießt: In einem gruftartigen Raum mit kahlen, hohen Wänden und einem mit großen polygonalen Stein- oder Terrakottaplatten bedeckten Boden sitzt eine in ein weites weißes Gewand mit dunklem Muster gehüllte Figur seitlich weggedreht und von uns Betrachter/*innen abgewandt auf einem hohen Sarkophag mit steilem dachförmigen Deckel, der mitten in der Halle steht. Eine Hängelampe an der Decke im Hintergrund taucht den Raum in fahles Licht. Lediglich das dunkle Hinterhaupt der Gestalt ist zu sehen und die sich über den Sarg ergießende Stoffbahn eines Umhangs und eines darunter hervorfließenden Schleiers, der wie drapiert in zwei halbrund endenden Bögen mitten im Raum aufgebreitet ist. Bei der Figur handelt es sich um Kubins große Liebe, Emmy Bayer, die er zur Braut nehmen wollte, die jedoch 1903 im Zuge eines Besuchs bei Kubin in München erkrankte und zehn Tage später starb: “Als ich an der Leiche stand, begriff ich mit einem Schlag, dass das höchste Glück für mich auf alle Zeiten dahin war”, so der Künstler.
MH, 2021