Bei diesem subtil und sparsam kolorierten Blatt handelt es sich um einen der wenigen Mädchenakte im Schaffen des Malers und Grafikers Ludwig Heinrich Jungnickel (1881–1965), der ja eigentlich als Tiermaler Furore machte. Das 1913/14 entstandene Werk zeigt deutlich den Einfluss expressionistischer Künstler wie Oskar Kokoschka (1886–1980), Egon Schiele (1890–1918) und Anton Kolig (1886–1950) auf Jungnickel. Auch die Motivwahl ist direkt von diesen Künstlern abhängig, da es sich bei seinem Modell um ein Mädchen an der Schwelle zur Pubertät handelt. Der frühe österreichische Expressionismus bevorzugte diese ambivalente Altersperiode am Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Doch anders als Kokoschka und Schiele, die sich beide für die beginnende Sexualität der Jugendlichen interessierten und daher ihre Akte vollkommen nackt darstellten, entschied sich Jungnickel für einen kurzen Rock, der die Scham des Mädchens bedeckt. Diese Zugangsweise konterkariert den sexualisierten Blick der anderen Expressionisten und offenbart somit Jungnickels gemäßigtere Anschauung zu diesem Thema.
Eingebracht in die Leopold Museum-Privatstiftung 1994
Literaturauswahl
Linie und Form. 100 Meisterzeichnungen aus der Sammlung Leopold, hrsg. von Franz Smola/Fritz Koreny, Wien 2014 (Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien, 23.05.2014–20.10.2014).