Liebespaar am Morgen, 1915

Unkonventionell und explizit stellt Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) die beiden Liebenden am frühen, noch düsteren Morgen in zärtlicher Umschlingung dar. Der helle Leib der Frau blitzt aus dem nebligen Dunkel heraus. Beide, Mann und Frau, zeigen maskenhafte Antlitze. Kirchner modellierte mit weichen, atmosphärisch verdichtenden Strichen die Lithografie. Und doch haftet dem Gewirr an Linien etwas Zackig-Nervöses an, als würde unter der träumerisch-sanften Stimmung noch eine weitere Ebene, eine Unruhe, verborgen sein – ein markantes Merkmal von Kirchners Œuvre, der als Mitbegründer der Dresdner Künstlergruppe Die Brücke mit seinen gestalterischen Lösungen ein neues, der bürgerlichen Konvention entgegengesetztes Lebensgefühl vermittelte. Als Vertreter des deutschen Expressionismus wurde der Maler und Grafiker nach 1933 vom nationalsozialistischen Regime als „Entarteter“ verfemt. 1938 hat er sich im Schweizer Exil das Leben genommen.

MH, 2023