
Wien


Zwei Zigeunerinnen (Zigeunermutter und Tochter)
1927
(Liebau 1874–1930 Breslau)
Die sogenannte Zigeunermappe gilt als letzter Höhepunkt im Lebenswerk des aus Schlesien stammenden Expressionisten Otto Müller (1874–1930). Er war 1910 als vorletztes Mitglied in die Dresdner Künstlergruppe Die Brücke aufgenommen worden. Im Unterschied zu den konzeptuellen Ideen seiner jüngeren Kollegen – die Befreiung der Farbe vom Gegenstand und die Abstraktion der Naturform zur Ausdruckshieroglyphe unter Nutzung einer tendenziell kantigen, splittrigen Formensprache – ist sein Werk von vergleichsweise harmonischen Formen getragen und weist Distanz zur Ausdrucksintensivierung durch Formverzerrung auf. Hatte sich Müller in seinem Schaffen auf die sanft und unaufgeregt wirkende Darstellung von jungen Frauen und stillen Landschaften, der Einheit von Mensch und Natur in Form von Liebespaaren und Badenden konzentriert, erweiterte er 1927 nach einem Aufenthalt im ungarischen Szolnok sein Œuvre um die Beschäftigung und Identifikation mit den marginalisierten Volksgruppen der Roma und Sinti. Die Serie von aufwändig an der Akademie in Breslau in mehrfarbigem Lithografiedruck gefertigten Blättern umkreist thematisch die verklärte Lebensrealität der fahrenden Völker. Die weichen, rundlichen Formen der Lithografie und die atmosphärische Dichte der träumerischen Schilderungen zeugen von empathischer Einfühlung in die „Existenz der Ausgestoßenen und Ruhelosen“ – wie von Zeitgenoss*innen konstatiert wurde – und ist als sanfte Widerständigkeit Müllers interpretiert worden. Seine Darstellungen sind von Poesie, atmosphärischer Dichte und lyrischer Erzählkraft getragen und lassen die Faszination für andersartige Lebensentwürfe erkennen. Die Blätter tragen die Titel Zigeunerin im Profil, Zwei Zigeunerinnen, Zwei Kinder vor der Hütte, Zwei Zigeunermädchen im Wohnraum, Stehende Zigeunerin mit Kind auf dem Arm, Zigeunerin mit Kind vor dem Planwagen, Lagernde Zigeunerfamilie mit Ziege, Zigeunerfamilie mit Planwagen. Besondere Popularität hat das Blatt Zigeunermadonna (Zigeunerin mit Kind vorm Wagenrad) erlangt. Die in hellem Zinnoberrot gehaltene Kartonpapiermappe ist auf der Vorderseite mit dem Titel „Zigeuner“ in gestalteten Lettern, darunter dem vollen Namenszug des Künstlers und in der nächsten Zeile einem kleinen Pentagramm versehen. Das Einlageblatt in mattem Ocker trägt die Beschriftung „9 farbige Lithos – in 60 Mappen – nummeriert & handsigniert – MappeNR – Druck bei Lange Akademie Breslau“.
Anm. des Leopold Museum:
Der Originaltitel wurde vom Künstler selbst vergeben und stellt einen wesentlichen Bestandteil des Werks dar. Aus Gründen der Authentizität sowie zur Wahrung der künstlerischen Intention wurde auf eine nachträgliche Änderung verzichtet. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Bezeichnung nicht mehr dem heutigen Verständnis von sprachlicher Sensibilität und respektvollem Ausdruck entspricht.
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Josef Müller, Berlin (vor 1930);
Familie Müller (o.D.); (1)
Auktion: 30.11.1998, Ketterer Kunst München, 227. Auktion, Moderne Kunst, Los Nr. 14
Leopold Museum-Privatstiftung, Wien (seit 1998)
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