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ONLINESAMMLUNG

Brief von Josefine Harms an Marie Schiele, 13.12.1918

Leopold Museum,
Wien
Tinte auf Papier
17×13,1 cm

Künstler*innen

  • Josefine Harms

    (Weitersfeld 1850–1936 Wien)

  • Marie Schiele

    (Krumau 1862–1935 Wien)

Leider derzeit nicht ausgestellt

Dies ist der erste Teil des Briefes, welcher auf diesem Blatt fortgesetzt wird.

Transkription:

Wien den 13/12/18.

Ich musste einige Tage vorübergehen
lassen und Ihren Brief zum wiederhol-
tenmale lesen, den [!] ich kann dessen beleidi-
genden Inhalt nicht glauben. Wie ich Sie
vom Anfang bis vor kurzer Zeit kannte
hielt ich Sie solcher Worte nicht fähig.
Ich nehme an, dass Sie aufs äußerste über-
reizt in einem unzurechnungsfähigen Zu-
stand der verhängnisvollen L. [?] geschrieben haben.
Sie bezweifeln, dass Egon [Schiele] ein Testament ge-
macht hat, und bezweifelt auch mein eigener
Sohn (welchen Sohn meinen Sie?) danach wäre
ja das Testament gefälscht und wahrscheinlich
von mir; für Sie wäre es gut, Ihre Worte vor-
sichtiger zu wählen ich nehme es diesmal für
den Ausfluß Ihrer kranken Fantasie, ersuche Sie
aber meine Nachsicht auf keine weitere Pro-
be zu stellen.
Sie schreiben, Egon dachte nicht ans Sterben

aber er dachte, nachdem er doch verheiratet
und Soldat war, in erster Linie an seine
Frau; nachdem sie ihm im Tode vorange-
gangen ist fällt sein Erbe nach dem Gesetz
Ihnen zu. Worüber beklagen Sie sich?
Sie sprechen von verschwundenen Sachen,
zu unserem beiderseitigen Verdruß haben
wir zur kritischen Zeit zwei Diebinen [!] als Dienst-
boten gehabt, das Lehrmädchen zu der ihr Frl. [Fräulein]
Tochter gesagt haben soll: bloß sechs Hosen hat sie ge-
habt und so wenig Sachen pfui Teufel!
Doch Worte aus solchem Munde sind mir
nicht kompetent und ich kann es auch nicht glau-
ben, den [!] das Mädchen sizt [!] im Landesgericht
nachdem sie mir 200 K. [Kronen] aus meinem Portmonai [!]
gestohlen hat, und meiner Tochter 384 K. Einkassi-
rungen [!] unterschlagen hat; nach der Zweiten
habe ich nachgeforscht und erfahren daß sie
aus dem Mädchenheim durch schlechte Auführung [!]
ausgeschieden wurde.
Was das Ausräumen der Kredenz betrifft
sehe ich wieder, wie Sie Ihr Gedächtnis im

Stich läßt; an dem Abend wo wir Sie besucht
haben, war doch ausgemacht worden nächsten
Tag das war Sonntag gehen wir zusammen
ins Atelier und zwar um ½ 9 Uhr und von dort
auf die Lainzerst.[raße] zur Fotografin. ich habe mich
nicht ganz wohlgefühlt daher ist statt mir
meine Schwiegertochter mit Dela [Adele Harms] gegangen.
Für die Belehrung über die Kinderwäsche danke
ich, ich habe sie meiner Edith bezahlt da Sie
aber keinen Gebrauch mehr davon machen kann
und außerdem dieselbe durch das Testament
Dela zufällt ist die Sache erledigt.
Nun auch ein Wort über die Ausbeutung. Dieses
krasse Wort könnte ich Ihnen nicht ver-
zeihen wenn ich nicht annehmen möchte das
Sie in momentaner Sinnesverwirrung
geschrieben haben; Sie machen sich wahrscheinlich
ein Bild von Egons Einnahmen, aber nicht von
seinen Ausgaben, meine Ausbeutung besteht da-
rin, daß ich vom J.[ahr] 15 b.[is] 16 au[s]geholfen habe, wo ich
nur konnte erst seit Egon im Konsumverein
war hat sich seine Lage gebessert ich aber
bin durch weiteres Aushelfen in finanzielle
Bedrängniß gekommen und habe mein

Haus verkaufen müssen
so sieht meine Ausbeutung aus!
Im Jahre 18 hat Egon ziemlich große Einnah-
men gehabt leider aber noch größere Ausgaben,
abgesehen von den horrenden Kosten seines
Ateliers brauchte er täglich 200 K. umgerechnet
die Unterstützungen an verarmte Kollegen
und an seine nicht in glänzensten [!] Verhäl-
tnissen lebenden Schwester deren Mann und
Kinder und nicht ganz zuletzt seine Mutter.
Meinem Sohn haben Sie brieflich mitgeteilt,
dass Sie nun wissen warum Egon ins Kaffeehaus
ging, dieser Wink mit dem Zaunpfahl ist
nicht misszuverstehen nachdem mir daß vor
erwähnte Lehrmädchen gesagt hat dass sie
von Ihnen gefragt wurde ob Egon glücklich
war, ich glaube sie hat es nicht gewusst denn
sie war nicht seine Vertraute; aber zu Ihrer
Beruhigung nehmen Sie zur Kenntnis daß
Egon das Kaffeehaus notwendiger war
wie uns gewöhnlichen Sterblichen Brot u. Salz
ging er doch manchen Tag dreimal hin um
ausländische Blätter zu lesen das bedurfte er
zu seinem Beruf.
Anknüpfend an Ihre sinnlose Bemerkung
dass ich keinen zweiten Schwiegersohn

wie Egon war, bekomme wiederhole ich
Ihnen heute nicht zum ersten Mal, daß ich
mich gegen die Heirat mit der ganzen
Macht meiner Autorität gewährt [!] habe und
nur ja und Amen sagen mußte, weil man
mich vor die Alternative gestellt hatte, geht
es nicht mit meiner Einwilligung so geht
es eben ohne, und das wäre gewiss ge-
schehen, denn Sie dürften vieleicht [!] wissen dass
Egon einen unbeugsamen Willen hatte.
Den [!] bei aller Verehrung seiner Persönlich-
keit, zum Schwiegersohn hab ich ihn nicht
gewünscht. Denn ich war immer der Ansicht,
Künstler sollen nicht heiraten; zum Glück
war Egon auch als Künstler eine Ausnahme
und meine Edith für ihn die richtige Frau
was ich aus seinem eigenen Munde weiß.
Mit welcher Aufopferung sie Egon in der
ersten Zeit seiner militärischen Pflicht bei-
gestanden ist daß wissen wir nur allein
in Neuhaus war er über die unwürdige
militärische Behandlung derart verzweifelt
daß wenn Edith nicht alles angewendet hätte
ihn aufrecht zu erhalten er sich das Leben
genommen hätte.

Nach Neuhaus hat erst der richtige
Leidensweg für die Beiden angefangen;
ich habe geholfen so viel es mir möglich
war, Ihnen haben sie sich nicht offenbart
Sie hätten ja doch nicht helfen können aber
unter Diskretion und unter vier Augen als
Mutter zur Mutter möchte ich Ihnen erzählen
welchen Kampf die beiden guten Seelen um
ihre Existenz hatten; doch zum ewigen Not-
leiden waren die beiden distinguierten
Menschen nicht geschaffen. Egon verdiente
durch seine eminente Begabung viel und
leicht und hat zu leben verstanden, kein
Wunder, wenn die Erben enttäuscht sind.
Über alles, was Sie vermissen, bin
ich keine Rechenschaft schuldig, unsere
Dienstboten waren notorische Diebinnen aber
es war möglicherweise noch ein dritter
Dieb dabei! –
Zum Schluß kann ich Ihnen den Vorwurf von
Gefühlslosigkeit und Taktlosigkeit nicht
ersparen; mit welchem Eifer Sie nach Ediths
Pelz u. Tasche gefragt haben, weil Ihr Pelz
Ihnen nicht mehr gut ist und der Beutel
zu unpraktisch. Dieses Vorgehn hat uns ganz
erschüttert, nicht minder die Worte von Ihrer

Tochter, daß Egon nicht hinter einem Kadaver
geht, daß hat er als gebildeter Mensch si-
cherlich nicht gesagt, denn er hat gewußt
was das Wort bedeutet.
Mit der Ihnen gebührden [gebührenden]
Hochachtung zeichnet sich
Fr. Jos. [Josefine] Harms.

Objektdaten

Künstler*in​/Autor*in
  • Absenderin: Josefine Harms
  • Empfängerin: Marie Schiele
Titel
Brief von Josefine Harms an Marie Schiele
Datierung
13.12.1918
Kategorie
Autograf
Material​/Technik
Tinte auf Papier
Maße
17×13,1 cm
Nennung
Leopold Museum, Wien, Inv. 7626 01
Inventar­zugang
Neuzugang 2023
Werk­verzeichnis
  • ESDA ID 2805
Schlag­wörter
Egon Schiele
Datenbank der Autografen

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Provenienz

Provenienzforschung
im Leopold Museum i

Privatsammlung Leopold, Wien; (1)
Leopold Museum-Privatstiftung, Wien (2023)

  1. Archiv des Leopold Museums, Rechnung Nr. 01-2023 vom 18.04.2023

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