Um 1920 wurde die Wiener Kunstgewerbeschule zum Schauplatz eines singulären modernistischen Experiments. In Franz Čižeks Klasse (1865–1946) „Ornamentale Formenlehre“ entwickelte sich der Kinetismus, eine Kunstdisziplin, in welcher die Bewegung die Quintessenz jedes bildnerischen Ausdrucks darstellte. Was in den Bildern Erika Giovanna Kliens (1900–1957) und ihrer Mitstreiterinnen an der Wiener Kunstgewerbeschule mitschwang, war das von alters her bekannte Potenzial des Ornamentes, sich gleichsam ad infinitum zu erstrecken. Das Schlüsselwort hieß Wachstum. Ebenso wie der italienische Futurismus, zu dem er unübersehbare Ähnlichkeit aufweist, ließ der Wiener Kinetismus die optischen Reize den Bilderrahmen sprengen, nicht aber die haptischen.
Die Sammlung Schedlmayer. Eine Entdeckung, hrsg. Hans-Peter Wipplinger/Ivan Ristic, Wien 2021 (Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien, 10.09.2021-20.02.2022).