Windgepeitscht spannt sich der kahle Baum in den grau facettierten Himmel. Der gekalkte Stamm verschmilzt mit dem Hintergrund und unterstreicht die Isolierung des nervösen Geästs, das als beinahe abstraktes Lineament die Fläche durchwächst. Ein horizontaler Streifen am unteren Bildrand erscheint kürzelhaft als Erdboden, ebenso stilisiert ist die Hügelkette am tiefen Horizont. Egon Schiele (1890–1918) erreicht in seinen Landschaftsdarstellungen eine Intensität des Ausdrucks, die an seine Porträts und Selbstporträts heranreicht. Der Schlüssel dafür liegt in der anthropomorphen Inszenierung der Natur, der er menschliche Formen und Empfindungen einschreibt. Wie das kurz zuvor entstandene
Kleiner Baum im Spätherbst ist das Gemälde
Herbstbaum in bewegter Luft („Winterbaum“), das wenige Monate nach seiner Erstpräsentation im Hagenbund 1912 von Magda Mautner Markhof (1881–1944) angekauft wurde, daher kein genuines Landschaftsbild, vielmehr verkörpert der Baum in seiner Kargheit und Vereinzelung das Gefühl des Ausgesetztseins und der Einsamkeit – und Überlebenswillen. In seinem Essay
Egon Schieles Weg und Ziel, der 1923 im Katalog zur posthumen Einzelausstellung des Künstlers in der Neuen Galerie in Wien publiziert wurde, erkannte der Kunsthistoriker Kurt Rathe (1886–1952) in Schieles Landschaftsbildern „den besonderen Stimmungszauber einer moribunden Natur“; sie stellen „unendlich sensitive Organismen dar, deren feinfaseriges Nervensystem etwa das Netzwerk eines Zaunes, Telegraphendrähte und das dürre Gezweig entlaubter Bäume vertreten.“
VG, 2022