Mutter mit zwei Kindern II, 1915

Ein Jahr nach „Blinde Mutter“ entstand diese großformatige Darstellung einer sitzenden Mutter mit zwei Kindern. Bis auf das bloß liegende Gesicht und die Füße ist der Körper der Frau in ein grünes Textil gehüllt, das einen koloristischen Ausgleich zum monochromen, braungelben Hintergrund schafft, die Figur dem Grund aber zugleich in beunruhigender Körperlosigkeit annähert. Zudem ist der bleiche Kopf mit den kreisrunden Augenhöhlen und dem schwarzen Strichmund derart stilisiert, dass sich der Eindruck eines Totenschädels aufdrängt. Obwohl der partiell nicht abgeschlossenen farbigen Fassung geschuldet, greift das im Schoß schlafende Kind den in der Mutter schwelenden Ausdruck der Abwesenheit, des Todes auf. Bezeichnenderweise wählt Schiele das klassische Kompositionsschema einer Pietà, das nur durch das aufrecht positionierte, seltsam schwebende Kind zu ihrer Linken aufgebrochen wird. Mit seinem buntgestreiften Gewand stellt es die unschuldig-hoffnungsfrohe, aber in seiner Hilflosigkeit umso bedrückendere Seite dieses trostlosen Beziehungsdreiecks dar. Das Gemälde reiht sich in jene Tradition verstörender Mutter-Kind-Darstellungen Schieles ein, die mit dem Bild eines von Liebe, schützender Nähe und zärtlicher Fürsorge getragenen Verhältnisses brechen.

VG, 2022