Das Gemälde
„Entschwebung“, dem Egon Schiele (1890–1918) auch den Titel
„Die Blinden“ gab, entstand im ersten Halbjahr 1915. Im August des Jahres wurde es in der Galerie von Guido Arnot am Kärntnerring erstmals ausgestellt; wie ein anderes großformatiges Gemälde,
„Eremiten“ von 1912, blieb es jedoch bis zu Schieles frühem Tod unverkauft. In einer die Höhe der großformatigen Leinwand durchmessenden zweifachen Selbstdarstellung begegnet uns der Künstler in einer kurzen, mönchsartigen Kutte und führt damit ein Motiv fort, das aus früheren Selbstbildern Schieles vertraut ist. Die beiden Figuren sind vor einen flachen, mit bunten Blumen und Grasbüscheln landschaftlich chiffrierten Hintergrund gesetzt, der erst knapp unterhalb der Bildoberkante einen Horizont anzeigt. Der parzellierte Grund bildet durch teils durchgehende Linien größere Felder aus, die auf formaler Ebene zwischen dessen Kleinteiligkeit und den geschlossenen Körperformen des zweifachen Selbstporträts vermitteln.
Während die untere Figur den Boden mit ihren Füßen noch berührt und den Betrachter*innen mit ostentativ geöffneten Augen zugewandt ist, scheint die obere schwebend den Kontakt zum Irdischen bereits verloren, den Weg auf die andere Seite bereits beschritten zu haben. Die roten Lider spannen sich über die brechenden Augen, eingefallene Gesichtszüge und kraftlos einander berührende Fingerspitzen sprechen von Abschied und Tod. Mit diesem Gemälde ist Schiele – kurz vor seiner Hochzeit mit Edith Harms und dem Eintritt in den Kriegsdienst – eine seiner enigmatischsten und vieldeutigsten Selbstinszenierungen gelungen.
VG, 2022