„Ins Unbekannte“, 1900/01

In ruhiger Gelassenheit strömt eine Menschenmasse sich verdichtend in ein riesiges Tor – nicht gewahr werdend, dass es sich bei der Öffnung um das aufgesperrte Maul eines monströsen Ungeheuers mit riesigen Eckzähnen handelt. Alfred Kubin (1877–1959) segmentiert mit feinen Federstrichen und Spritztechnik die Bildfläche: Die sich aus dem Vordergrund bis in die Mitte des Formates – und somit in den Schlund des Scheusals – ergießende Menschenmasse wird horizontal in unterschiedlichen Beleuchtungen dargestellt. Aus dem Halbdunkel im Vordergrund geraten die dann nur mehr schemenhaft als Masse gezeigten Figuren immer mehr ins gleißende Licht, um durch die teilweise ausgeleuchtete Maulhöhle im schwarzen Loch des Schlundes zu verschwinden. Die noch individuell ausformulierten vordersten Menschen sind im entspannten Dialog gezeigt. Kein Anflug von Argwohn und Besorgnis ist zu bemerken. Wenn Kubin die 1900/01 geschaffene Tusche-Federzeichnung mit Ins Unbekannte betitelt, erschließt sich sein zutiefst schwarzer Humor und sein Wille, uns in seine Welt von Metaphern, Doppelbödigkeiten und Abgründigkeit zu entführen.

MH, 2021