Voll Inbrunst bläst Der Rattenfänger von Hameln – so der Titel der Tuschezeichnung von Alfred Kubin (1877–1959) – sein Instrument und lockt die Schar naiv dreinblickender Kinder, ihm zu folgen. Lediglich eine versprengte Ratte hechtet aus dem Bildraum. Im Hintergrund bildet ein spitzgiebeliges Gebäude mit Tordurchfahrt eine pittoreske Kulisse. Auf dem Dach schreitet ein Storch. Allerdings eilt der Rattenfänger nicht vor den Kindern her, sondern hat sich zu ihnen umgewandt und scheint breitbeinig, in leicht nach vorn geneigter Haltung ihnen seine Weise entgegenzuflöten, um rückwärts zu gehen – sich nicht gewahr seiend, dass er direkt an der Kante eines rinnsalartigen Abgrundes steht, in den sich im Vordergrund des Bildes dreckiger Morast aus einem Abflussrohr zu ergießen scheint. Noch ein Schritt und er wird stürzen! Eine Metapher? 1943 formulierte Kubin diese köstliche Szene mit nervösem, dichtem Federstrich und großer Erzähllust. Nach Machtergreifung der Nationalsozialisten war der Künstler ob seines schonungslosen, zuweilen psychoanalytisch anmutenden Werkes als „entartet“ gebrandmarkt worden.