Karikaturenhaft, zugespitzt und theatralisch konstruiert wirken die fünf Figuren, die Rudolf Schlichter (1890–1955) in seiner Tuschegrafik
Gefangennahme mit weinender Frau dicht zusammengerückt aufeinandertreffen lässt. Indem er sie auf dem Blatt flächenfüllend übereinander beziehungsweise scheinbar hintereinander positioniert, wirkt die Szene räumlich.
Im Zentrum steht die Titel gebende schwarz gekleidete Frauenfigur, die aus traurigen, dunkel unterlegten Augen dicke Tränen vergießt. Trotz des züchtig wirkenden Schleiers strahlt die Figur etwas Lasterhaftes aus. Der ausgezehrte Sträfling im Vordergrund, zwei Soldaten in Gala-Uniform im Hintergrund und eine rätselhafte männliche Figur mit spitzem Profil und priesterlicher Kappe komplettieren die Szene. Mit Feder und Pinsel und einem desillusionierten, schonungslosen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse trägt Schlichter, ein Vertreter der Neuen Sachlichkeit, die Tusche auf und erzielt dadurch eine erzählende Verdichtung.
MH, 2021